Juristische und sozialmedizinische Probleme bei bariatrischen Operationen
Veröffentlicht am 14. Februar 2010 von Tim C. Werner
Fettgefressen, selber schuld? – Aktuelle Probleme rund um § 52 SGB V
Die Diskussion um die Einführung eines Verschuldensprinzips in das System der gesetzlichen Krankenversicherung ist fast so alt wie das Solidarprinzip selbst: Immer wieder wurde und wird diskutiert, ob sich nicht z. B. Raucher, Trinker oder (Extrem-)Sportler an den Kosten von erforderlichen Heilbehandlung beteiligen sollten.
Tatsächlich wurde am 1. April 2007 (zuletzt geändert zum 1. Juli 2008) eine Norm eingeführt, die seitdem für viel Unruhe gesorgt hat, auch und gerade in Bezug auf die chirurgische Behandlung der Adipositas: Die Rede ist von § 52 des fünften Buches des Sozialgesetzbuches (SGB V).
Nachfolgend werden die beiden Absätze der Vorschrift vorgestellt, es folgt eine kurze Auseinandersetzung mit den aktuellen Fragen zu Inhalt, Anwendungsgebiet und Auslegung.
I. Die Adipositas als vorsätzlich zugezogene Krankheit i.S.d. § 52 Absatz 1 SGB V
Absatz 1 lautet:
„Haben sich Versicherte eine Krankheit vorsätzlich (…) zugezogen, kann die Krankenkasse sie an den Kosten der Leistungen in angemessener Höhe beteiligen und das Krankengeld ganz oder teilweise für die Dauer dieser Krankheit versagen oder zurückfordern.“
Die Norm durchbricht den Grundsatz, wonach im Interesse der Versicherten und der Allgemeinheit Leistungen grundsätzlich ohne Rücksicht auf die Krankheitsursachen zu gewähren sind (so z. B. BSGE 18, S. 257f. und BSGE 59, S. 119). Sie konkretisiert erstmals das in § 1 Satz 2 SGB V niedergelegte Leitbild der Eigenverantwortlichkeit der Versicherten.
Neben einem Kausalzusammenhang zwischen einem aktiven Tun (oder einem Unterlassen) und der behandlungsbedürftigen Krankheit verlangt diese Vorschrift allerdings, dass sich der Vorsatz (mindestens in Form einer billigenden Inkaufnahme) auch auf die Verursachung einer Krankheit bezieht. Einen solchen Vorsatz wird man in Fällen bloßer gesundheitsschädlicher Lebensführung (exzessives Rauchen, Alkoholabusus, übermäßige Nahrungsaufnahme) regelmäßig nicht annehmen können.
Trotzdem werden die Stimmen, die extreme Adipositas als selbstverschuldete Krankheit verstanden wissen wollen, in jüngster Zeit lauter, vor allem aus dem Lager der PKV.
II. Adipositaschirurgie als ästhetische, medizinisch nicht indizierte Operation i.S.d. § 52 Absatz 2 SGB V
Absatz 2 lautet:
„Haben sich Versicherte eine Krankheit durch eine medizinisch nicht indizierte ästhetische Operation, eine Tätowierung oder ein Piercing zugezogen, hat die Krankenkasse die Versicherten in angemessener Höhe an den Kosten zu beteiligen und das Krankengeld für die Dauer dieser Behandlung ganz oder teilweise zu versagen oder zurückzufordern.“ (Fassung bis 30. Juni 2008: „Haben sich Versicherte eine Krankheit durch eine medizinisch nicht indizierte Maßnahme wie zum Beispiel eine ästhetische Operation, eine Tätowierung oder ein Piercing zugezogen, hat die Krankenkasse die Versicherten in angemessener Höhe an den Kosten zu beteiligen und das Krankengeld für die Dauer dieser Behandlung ganz oder teilweise zu versagen oder zurückzufordern.“ Die Konkretisierung dieser alten Fassung durch die zum 1. Juli 2008 in Kraft getretene neue Formulierung war vom Gesamtverband der Gesetzlichen Krankenkassen ausdrücklich gefordert worden, siehe Bundestagsdrucksache 16/3100 vom 24. Oktober 2006).
Immer wieder taucht hier die Frage auf: Wer zahlt bei Komplikationen, wenn ein Patient hinsichtlich einer bariatrischen OP in Vorleistung getreten ist bzw. diese – ohne von der Krankenkasse Erstattung zu verlangen – selbst bezahlt hat?
Dem Autor sind eine ganze Reihe von Fällen bekannt, in welchen die gesetzlichen Krankenkassen bereits im ersten Ablehnungsschreiben an den Versicherten, der eine Magenoperation beantragt hat, die Norm des § 52 Absatz 2 SGB V zitieren. Vermutlich sollen die Betroffenen auf diese Weise davon abgehalten werden, hinsichtlich der begehrten Maßnahme in Vorleistung zu treten und die Krankenkasse im Anschluss daran auf Erstattung der verauslagten Beträge in Anspruch zu nehmen (was nach § 13 SGB V durchaus möglich ist, mehr dazu in einer der nächsten Ausgaben).
Eine Antwort gibt wie so oft die gesetzgeberische Intention: Die Solidargemeinschaft soll für jene Maßnahmen nicht eintreten müssen, die rein kosmetischen Charakter haben und/oder lediglich der Erhöhung der Lebensqualität dienen (so z. B. Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht, Verlag C. H. Beck, § 52 SGB V, Rn. 23f.).
Im Falle der Adipositaschirurgie heißt das: Hat ein Facharzt einen Patienten gemäß den Leitlinien der Fachgesellschaften ausgewählt, die medizinische Indikation gestellt und schließlich operiert, so ist im Falle auftretender Komplikationen für eine Anwendung des § 52 Absatz 2 SGB V kein Raum, und dies unabhängig davon, ob eine Krankenkasse die medizinische Indikation bestreitet oder nicht.
Aus diesem Dilemma könnte sich eine Krankenkasse allenfalls mit einer sog. Feststellungsklage befreien. Ein solches Risiko wird sie aber – da sie für alle Voraussetzungen einer Versagung oder Rückforderung nach § 52 Absatz 2 SGB V beweisbelastet ist – regelmäßig nicht eingehen. Denn: So lange die medizinische Indikation streitig ist, ist das Tatbestandsmerkmal „medizinisch nicht indiziert“ nicht erfüllt.
III. Fazit
Von einer Definition der extremen Adipositas als selbstverschuldete Krankheit sind wir zum Glück noch weit entfernt. Betroffene und Fachärzte müssen vor der Anwendung des § 52 SGB V durch die gesetzlichen Krankenkassen keine Angst haben.
Gleichwohl gilt es einer Entwicklung in diese Richtung frühzeitig und vehement entgegenzutreten.
Tim C. Werner
Werner Rechtsanwälte
Windthorststraße 62
65929 Frankfurt am Main
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